55 Prozent der Deutschen votieren für Einführung der Monarchie, jeden Tag Bienenstich zum Kaffee oder öffentliche Hinrichtungen. So verbreiten unsere fleissigen Abschreiberlinge Volkes Meinung, ohne es je gefragt zu haben. Denn wozu gibt es Meinungsforschungsinstitute? Was früher das Orakel von Delphi war, das über einem Abgrund von Fäulnis sass und deshalb benebelt Visionen empfing, das sind heute unsere Qualitätsjournalisten, die investigativ einander die Meldungen abschreiben und sich gegenseitig als Quelle bestätigen.
Jetzt erst ist aufgeflogen, was jeder schon gewusst hat, wenn von Sex und Saufen übernächtigte Korrespondenten mit zitternder Stimme oder in aufgeregtem Tonfall die Meldungen des Klitterer verlesen und uns weismachen wollen, sie hätten die Nachricht exclusiv für uns herausgestöbert. Manchmal sogar unter Lebensgefahr.
Ob es das erfundene Ertränken eines Sebnitzer Apothekerkindes ist, durch blondhaarige Badehosennazis, ein wilder Überfall vor besetzten Balkonen in Mittweida, bei dem sich ein Antifamädchen kunstgerecht ein Hakenkreuz in die Hüfte schnitzt, ein lebkuchenmesserndes Attentat auf den Supermann unter den Dorfpolizisten, Alois Mannichl, oder glatzköpfige, sommersprossige Deutsche, die mittels Aneinanderreiben von Holzstöckchen schlecht verkabelten Stromklau in einem ludwigshafener Türkenhaus zur Entzündung bringen, keine Ente ist zu schnell, dass unsere Nachrichtenmagazine nicht aufspringen würden.
Nun hat sich erschütternder Weise herausgestellt, unsere Menschen wollen Streiks auf der Eisenbahn. Sie finden das lustig. Insbesondere die Bahnreisenden, die Kunden, die die Streikenden über den Fahrpreis bezahlen. Ist das nicht irritierend? Hätten die Gewerkschaften gewusst, dass die Bahn eigene Standpunkte in der Öffentlichkeit verbreiten lässt, wie Streiks sind bäh oder die Bahn macht mobil, dann hätten sie doch nie und nimmer darauf verzichtet, noch mehr Bahnkunden auf die Strassen zu treiben oder nicht? Gewerkschaften tun so etwas übrigens nicht. Uns eigene Standpunkte heimlich unterzujubeln.
Schleichwerbung
Danke für das Aufgreifen eines Themas, über das ich mich schon lange ein wenig geärgert hab: Wer bitte weiß denn was meine Meinung ist, also wie bitte kommen irgendwelche Leute dazu zu behaupten ich, als Deutsche, als Jugendliche als was weiß ich würde dieses oder jenes, zu diesem oder jemen sagen?
Außerdem hab ich den Eindruck, dass die bei Umfragen immer nur bestimmte gesellschaftliche Schichten ansprechen, die mich oft nicht wirklich repräsentieren.
Dementsprechend: Gut dass das Thema mal auf den Tisch kommt.
Es gab mal eine Zeit, da sind Journalisten raus gegangen, haben die Dinge, über die sie schrieben, selbst erlebt. Jack London war so ein Mensch. Er ist wirklich auf den Puffern der Eisenbahnen durch Amerika gefahren, hat mit den Tramps gelebt.
Heute schreiben Journalisten ihre Artikel am PC. Recherche erfolgt im Internet, nicht vor Ort. Ich möchte mal wissen, wie oft Mark Pitzke, Spiegelkorrespondent, seinen Arsch aus seinem New Yorker Büro bewegt und ins Land fährt.
Trotzdem schreiben alle, als ob sie dabei gewesen sind.
In aller Bescheidenheit. Meine Fahr- und Erlebnisleistung allein in den USA beträgt etwa knapp 100 000 km. Nicht durchgeheizt, sondern jeweils über Monate gestreckt und in jeder Ecke rumgeschnüffelt. Am Anfang habe ich einige Male Journalisten auf Berichterstattungsfehler hingewiesen. Aber das will a) keiner hören und b) ist die Zeit zu schnell, die Berichte wurden schon zum Ausstopfen feuchter Schuhe verwendet.
Seither spare ich mir die Mühe. Es gibt nur gaaaaanz wenige Journalisten die ich gelten lasse. Die überwiegende Mehrheit sind verblödete Pinscher.
Es gibt schon Zeitungen, die noch eigene Correspondenten draußen haben. Wenn z. B. Thoman Scheen in der F.A.Z. aus Afrika berichtet, ist das immer lesenswert. Das hat natürlich seinen Preis. Letztes Jahr war Scheen selbst zwischen den Fronten (war es Kongo?) in Geiselhaft geraten. Oder die Sozialreportagen von Katrin Hummel, z. B. über minderjährige Eltern — finde ich sehr interessant, da entwickelt man Verständnis für Leute, mit denen man sonst gar nicht so zusammenkommt (also ich zumindest).