*Freiburger Zeitung vom 29.04.1934* Zwischen Honolulu, Charbin und Moskau. Prophezeiungen und Kriegsgespräche im Fernen Osten. Ein Reisebericht von H. Kaub. Nowo-Sibirsk, im April.
Nun sitzt der Mann mit dem Kalmükengesicht und dem riesengroßen, vierkantigen Schädel eine Stunde da und erklärt mir, weshalb Rußland 1. kämpfen wird und 2. siegen muß. „Heute ist das alles ganz anders!“ sagt er und donnert mit der mächtigen Tatze auf das kleine Tischlein, auf dem der „Ober“ des Sibirien-Expreß den Teee serviert hatte. Zucker hatte er keinen gebracht. Man nahm ein Stück Konfekt dazu, durch das man den Tee sog. Jenes Konfekt, das man ißt, an dem man aber nicht riechen soll.
„Damals, vor zwei oder drei Jahren hätte ich nicht sagen können, Rußland wird kämpfen und Rußland wird siegen. Heute kann ich es.“ Er deutet hinaus. Draußen legen Sträflinge und Zwangsarbeiter letzte Hand an die Doppelgleise. Hier zwischen Krasnojarsk und Nowo-Sibirsk wird das automatische Blocksignalsystem soeben ausgebaut. Damit wird die Leistungsfähigkeit der Strecke erhöht.
Mein Reisegefährte ist vielleicht der Hundertste, mit dem ich die fernöstliche Frage erörtere zwischen Honolulo, Tokio und Charbin, Krasnojarsk und Nowo – Sibirsk. Und jeder dieser Hundert hatte eine andere Meinung. Nur in einem waren sich alle klar: daß es eines Tages geschehen werde. Der Krieg im Fernen Osten Asiens. Die Auseinandersetzung.
Der Filmreporter, der von Honululu mit herüberkam, glaubte, es werde schon im Herbst losgehen. Der amerikanische Diplomat, der nach Tokio gebucht war, rechnete mit einer Beschleunigung nach dem Ablauf des Naval- Agreement, also des großen Seeabkommens, das 1935 endet. Denn da würden sich Fragen der „Gleichberechtigung“ aufwerfen, die nicht auf dem Verhandlungswege beizulegen seien. Die Botschafter Chinas, die im vergangenen Monat zu einer Konferenz nach Nanking berufen waren, um über die kommende Politik zu beraten, schätzten, wie einer der maßgebenden Leute Chinas verriet, den Beginn des großen Ereignisses auf spätestens 1936 im Frühjahr.
Die Engländer – ich sprach einen in Singapore stationierten höheren Seeoffizier – glauben nicht daran, daß über den kommenden Sommer hinaus die fernöstliche Frage sich anders als kriegerisch lösen lassen wird. Die Japaner lächeln und sagen nichts. Aber sie betonen meist, daß die mandschurische Frage nicht so brennend sei, um schon jetzt einen Krieg zu wagen. Und die Russen meinen: „Hoffentlich erst in zwei bisr drei Jahren!“ Für sie ist jede gewonnene Stunde eine Stärkung.
In Wladiwostock merkt man die Kriegsgefahr auf Schritt und Tritt. Wer nicht im Kriegsdienst aktiv ist oder als Fremder durchreist, der ist überflüssig und wird abgeschoben, sofern er nicht gerade Spion ist und erschossen werden kann.
Ein in Tokio militärisch ausgebildeter Mandschurenoffizier machte mir eine Rechnung auf, die interessant genug ist, um sie (der Inhalt des Zuggespräches in den Grenzgebieten) wiederzugeben: In Mandschuria und jetzt auf dem Vormarsch in das Land der Mongolen sind 100000 Japaner, 90000 Mandschurentruppen und 10000 Weißrussen, die unter japanischem Kommando stehen. Diese Zahlen stimmen ungefähr mit dem überein, was der mysteriöse Genaral Blücher sagte, als er behauptete, die Japaner 130000 eigene Truppen im Manschurengebiet hätten. Zuzüglich 110000 Mandschurensoldaten und 12000 Weißrussen.
Der gleiche manschurische Offizier sagte, daß die Russen zur Zeit nur 16000 Mann in der Fern – Ost – Armee hätten, einschließlich 10000 Mann Kavallerie. Freilich kämen noch zwei Spezial Korps der GPU hinzu und eine Kavalleriedivision für den Gebietsteil der Mongolei.
So sind die Figuren aufgestellt in diesen Schachfeldern. Jedem Gegner durch raffinierte Spionage genau bekannt. Aber in dem Schachspiel gibt es noch einen Faktor, der allem ein anderes Gesicht zu geben vermag. Die Luftwaffe.
Jener Kalmücke im Zug nach Nowo – Sibirsk meinte: „Der Krieg wird schwer für beide Länder. Aber das Risiko ist größer für Japan als für Rußland. Denn Japan kann niemals das Herz Rußlands erreichen. Aber – Rußland kann in wenigen Stunden das Herz Japans erreichen – mit dem Flugzeug! Die leichten Häuser, die modernen Brandbomben!“
Wie sagte doch kürzlich General Hayashi, der japanische Kriegsminister: „Rußland hat 300 Kriegsflugzeuge und Bombenflugzeuge bei Charbin konzentriert.“ Er schwieg über Wladiwostock, das einst die Russen im Falle eines Krieges räumen wollten. Aber er weiß, daß dort eine große Flugzeugbasis ist, er weiß, daß Wladiwostock heute kämpft und das Zentrum des Vorstoßes nach Japan ist – durch die Luft.
800 Kilometer sind es von Wladiwostock bis nach Tokio. Zwei Stunden für eine der neuen Maschinen.
Inzwischen mühen sich weiterhin jammervolle Zwangsarbeiter an den Doppelgleisen nach dem Fernen Osten. Gehetzt von Drohungen ihrer Aufseher, der Leute von der GPU, die wenig Mitleid kennen.
Die Siedler, die man nach dem Fernen Osten gelockt hat und die zum Teil noch in diesen Tagen und Wochen an ihre Bestimmungsorte verfrachtet werden, sind die Nachhut der Roten Armee des Fernen Ostens, die man auf Selbstversorgung einrichten will, damit sie nicht vier Wochen nach Ausbruch eines Kampfes verhungert ist.
Auch die Frabriken, die man anlegt, dienen diesen Zwecken. Eine riesige, nur auf Krieg, nicht auf Frieden abgestellte Organisation wird hier fieberhaft geschaffen.
„Rußland wird kämpfen, wenn man es angreift!“ sagt der Kalmücke im Sibirienexpreß.
„Japan wurde noch nie besiegt!“ sagt vorsichtig der Mandschurenoffizier, eingedenk dessen. was man ihn auf der Kriegsakademie in Tokio zu sagen lehrte.
Der Westeuropäer schweigt. Er wird es erleben.
Bild: Maiumzug in Berlin 1934. Festwagen mit der Maikönigin.
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